Zur Österlichen Bußzeit 2022
Vorwort anlässlich der Ukrainekrise
Liebe Schwestern und Brüder,
vor dem eigentlichen Hirtenwort zur Fastenzeit, dessen Fertigstellung mit Kriegsbeginn in der Ukraine zusammenfiel, möchte ich Ihnen kurzfristig ein Wort des Dankes und der Ermutigung zusprechen.
Seit über eine Woche wissen wir uns mit dem Krieg im Osten Europas in einer Ausnahmesituation. Ihr Kinder und Jugendliche erlebt erstmals, dass ein Krieg uns so nahe ist und betroffen macht. Dabei ist Krieg nie eine Lösung und die Welt danach keinen Deut besser! Und noch schlimmer: Was vor über einer Woche begann, wird nicht in einer Woche vorbei sein. Wir werden mit unserer Solidarität einen langen
Atem brauchen – lassen Sie uns auch dann noch hinschauen, wenn die
Medien wieder aus anderen Teilen der Welt berichten.
Bereits der Prophet Jeremia kennt Gottes Gewissheit: „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“ (Jer 29,11). In diesen Tagen erlebe ich, dass diese Verheißung schon Wirklichkeit wird – durch gelebte Nächstenliebe von Ihnen. Was ich in Europa, in unserem Land, aber besonders auch in unserem Bistum Dresden-Meißen an kleinen und
großen Initiativen wahrnehmen konnte, ist großartig und schenkt mir Hoffnung. Die spontane Sammlung von Hilfsgütern und die Transporte
an die Grenze, die vielen Spenden, die Bereitschaft, die eigenen vier Wände für Flüchtlinge zu öffnen, die anhaltenden öffentlichen Kundgebungen und das Gebet so vieler für den Frieden sind für mich Lichtschimmer in einer Welt, die uns wie finstere Nacht erscheint. Ich sehe dahinter die Sehnsucht vieler nach Menschlichkeit, Solidarität und Zusammenhalt. Es zeigt mir, wie sehr wir im Wert des friedlichen und gewaltfreien Miteinander zusammenstehen.
Bei den derzeitigen Auseinandersetzungen ist mir wichtig, dass wir als Menschen beieinanderbleiben – mit den Menschen in der Ukraine, aber auch mit den Menschen in Russland. Dieser Krieg ist falsch. Die Sanktionen dagegen sind notwendig. Ross und Reiter müssen benanntund gezügelt werden. Aber lasst uns auch Brücken erhalten zu den Menschen in Russland, die Frieden stiften. Lassen wir uns als Menschen guten Willens nicht auseinandertreiben. Hass beginnt im Herzen, Frieden auch.
Ich bitte Sie weiter um Ihr Gebet und die konkrete Hilfe. Diesen Sonntagabend lade ich alle um 19.30 Uhr zu einer großen ZOOM-Konferenz unter dem Titel „Helfen in Krisenzeiten – aber wie?“, die mit Expertinnen der Landesdirektion und der Caritas überlegt, wie Unterstützung für die Ukraine und die Flüchtlinge sinnvoll in unseren Gemeinden und kirchlichen Orten aussehen kann. Informationen dazu finden Sie direkt auf der Startseite der Bistumswebsite.
Bleiben wir verbunden!
Ihr Bischof + Heinrich
Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit
Liebe Schwestern und Brüder,
vor einigen Jahren war ich mit einer kleinen Pilgergruppe im Heiligen Land auf einer Tagestour durch die Wüste. Jeder auf einem Kamel zogen wir in der Frühe los, unter der Führung eines Beduinen. Er ging zu Fuß und führte mit der linken Hand ein Kamel. In der rechten Hand hatte er – zu meiner Verwunderung – ein Mobiltelefon. Nach kurzer Zeit schon sah man, in welche Richtung man auch schaute, nur noch Wüstensand und Sonne. Je weiter man in die Wüste hineinging, umso mehr verlor man die Orientierung. Nach einiger Zeit konnte man in der Ferne einige Sträucher erkennen, die sich als Oase entpuppten. Dort machten wir eine Pause. Einer fragte den Beduinen wegen seines Telefons in der Hand, ob es hier ein Mobilfunknetz gäbe. Darauf antwortete der Beduine: „Ich telefoniere doch nicht, das ist der Kompass. An den halte ich mich beständig, um nicht die Orientierung zu verlieren.“
Die Kirche in einer Wüstenzeit
Am ersten Fastensonntag hören wir, wie Jesus in die Wüste geführt wird und Versuchungen ausgesetzt ist. Ich höre das Evangelium in diesem Jahr im Blick auf unsere Kirche: Sind wir nicht in einer Wüstenzeit, in einer großen, uns erschütternden Krise? Sind wir nicht als Kirche auf verantwortlichen und leitenden Ebenen den Versuchungen erlegen?
Wir sind strukturell und als Einzelne schuldig geworden. Die erschütternden Meldungen zu Zahlen und Begleitumständen des Missbrauchsskandals reißen nicht ab. Die Betroffenen sexualisierter Gewalt fordern Gerechtigkeit und die Anerkennung des erlittenen Leids. Queere Menschen machen mit ihrer Aktion „#outinchurch“ auf die Verletzungen und Ungerechtigkeiten aufmerksam, die sie in unserer Kirche erfahren haben. Das sind drei von vielen bitteren, aber klärenden Nachrichten.
Wenn wir – wie auch beim Synodalen Weg – nach den Ursachen fragen, zeigen sich deutlich die Versuchungen, denen wir erlegen sind. Ich denke beispielsweise an Themen wie unseren Umgang mit Macht, die Rolle der Frau in der Kirche oder eine vor allem in die Enge führende Sexualmoral. Was wir derzeit wahrnehmen ist aufwühlend und macht fassungslos – auch mich.
Viele Menschen stimmen mit den Füßen ab und verlassen unsere kirchliche Gemeinschaft. Oft sind sie tief enttäuscht und verletzt. Andere wiederum können nur schwer fassen, welche Schritte der Veränderung wir auf dem Boden dieser Erfahrungen beim Synodalen Weg suchen. Sie haben Sorge, dass alles verraten wird, was ihnen heilig ist, und wir unsere Kirche in Anpassung an den Zeitgeist preisgeben könnten. Auch sie sind schwer enttäuscht.
Dazwischen suchen viele Menschen nach Zeichen der Hoffnung, die ihnen trotz allem Mut machen, in dieser Kirche zu bleiben, in der sie auch viel Gutes erfahren haben. Sie trauen sich mitunter kaum zu sagen, dass sie sich ihr verbunden fühlen. Sie bejahen einen Wandel und hoffen, dass die Kirche wieder mehr zu einem Ort des Lebens und des Glaubens für die Menschen werden kann. Mit ihnen hoffe auch ich darauf.
Den Versuchungen widerstehen
Ja, wir sind als Kirche in einer Wüstenzeit. Diese Erfahrung macht das Volk Israel, das 40 Jahre in der Wüste unterwegs war. Auch Jesus wird 40 Tage vom Geist in der Wüste umhergeführt. Dort erlebt er, dass ihm Gottes Geist in all den Versuchungen beisteht. Was können wir von ihm lernen?
Jesus verweigert sich, seinen „Hunger“ durch ein Brotwunder zu stillen. Mit dem „Nein“ zur Versuchung gibt er sich mit Vorläufigem nicht zufrieden. In der Krise kann ein schneller, satter, beruhigter Zustand nicht die Lösung sein. Die Sehnsucht danach ist verständlich, aber trügerisch. Es gilt, die Spannungen auszuhalten und zu durchleben. Es gibt keine vorschnellen Lösungen und einfachen Antworten. Professor Eberhardt Tiefensee formuliert es so: „Gegen die Wirklichkeit hilft kein Wünschen.“ Die Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit in der Kirche und in der Welt auszuhalten, kostet viel Kraft und braucht Gottvertrauen.
Jesus verweigert sich, alle Macht zu erhalten, wenn er nur den Teufel anbetet. Jesus setzt keine falschen Prioritäten aus Angst, etwas zu verlieren, oder um Macht, eigenen Vorteil oder Ansehen zu gewinnen. Diese Versuchung kennen wir. Es ist leicht, unsere persönlichen Vorstellungen mit dem zu verwechseln, was uns der Heilige Geist nahelegt. Jesus zeigt uns in der Wüste einen anderen Weg. Etwas Neues entsteht, indem ich in den Dialog mit meinem Gegenüber eintrete und meine Vorstellungen nicht absolut setze, sondern die Überzeugung des Anderen zu verstehen und zu würdigen versuche. Der Alleingang führt nicht weiter. Im Aufeinanderhören und im gemeinsamen Hören auf Gott zeigt sein Geist uns, welche mutigen Schritte zu gehen sind. Bleiben wir also in Beziehung und im Dialog mit Gott und miteinander: in der Familie, in der Kirche und in der Gesellschaft. Die allerschrecklichsten Folgen, wenn Menschen das Gespräch abbrechen und mit Gewalt ihre Macht durchsetzen, sehen wir in diesen Tagen im Osten Europas.
Jesus verweigert sich, sich vom Tempel zu stürzen, weil ihn doch die Engel Gottes behüten werden. Jesus lehnt es ab, die Erdanziehung, d.h. die Realität außer Kraft zu setzen mit der falschen Hoffnung, dass Gott schon alles gut machen wird. Im Gegenteil: Jesus entlarvt dies als Versuchung, etwas von Gott zu erwarten, was nicht zu erwarten ist. Das heißt doch: die Wirklichkeiten des Lebens sind zu bejahen, Fakten ernst zu nehmen und nicht auf wundersame Verschonung zu hoffen. Wir müssen uns dem Leben in seinen Realitäten stellen. Der Jesuit Willi Lambert drückt es mit einem Satz aus: „Gott umarmt uns mit der Wirklichkeit.“ Bibel und Glauben lehren uns: die Wüste ist kein gottloser Ort, sondern Begegnungsort mit ihm. Gottverbundenheit und das reale Leben gehören zusammen.
Der Kompass
Liebe Schwestern und Brüder, für unsere Tagestour in die Wüste haben wir uns gut vorbereitet, mit genügend Wasserreserven, Proviant, Sonnenschutz und dem Kompass des Beduinen. Damit ist der Weg unter der Sonne durch den Wüstensand gut gegangen. Mir ist dabei deutlich geworden: Eine Wüstenzeit mit den Entbehrungen und Gefahren muss keine Zeit der Hoffnungslosigkeit sein!
Im Römerbrief hören wir heute: „Wenn du mit deinem Mund bekennst: ‚Herr ist Jesus‘ – und in deinem Herzen glaubst: ‚Gott hat ihn von den Toten auferweckt‘, so wirst du gerettet werden.“ (Röm 10,9) Das ist ein Kernsatz unseres Glaubens, den wir in jeder Liturgie feiern. Dieses Wort steht für das ganze Leben von Jesus. Er hat sein Leben hingegeben für uns, von der Menschwerdung bis hin zum Kreuz. Zum Leben Jesu gehört sein barmherziger Umgang mit den Armen, Schwachen und Ausgegrenzten; sein Mitfühlen und Heilen in Krankheit und Leiden; sein Eintreten für Gewaltlosigkeit, für Frieden und Versöhnung. Jesus verkündet das Evangelium mit seinen Worten und mit seinen Taten – das ist unser Kompass, daran richten wir uns aus. Roger Schutz, der Gründer von Taizé, macht es uns so begreiflich: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast, und wenn es noch so wenig ist, aber lebe es!“ Das ist leichter gesagt als getan. Die Österliche Bußzeit lädt ein, sich vom Kompass des Evangeliums einnorden zu lassen. Dann wird mir nicht bange angesichts unseres Weges durch die Wüste.
Dazu segne Euch der barmherzige Gott, der + Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Heinrich Timmerevers
Bischof von Dresden-Meißen